Ein Freischütz, der einen frösteln lässt
Beide Werke wurden zuvor noch nie auf der Seebühne gegeben und werden auch stilistisch durch Welten getrennt: Verdis „Rigoletto“ im prallen Verismo und Webers romantisch-treuherziger „Freischütz“. Wenn man sich freilich den symbolhaften Clownskopf bei Verdi vergegenwärtigt, der am Schluss zum Totenkopf gerinnt, dann wäre Stölzl nicht Stölzl, wenn er nicht auch seinen „Freischütz“ so auf den Kopf stellen würde, dass sich aus der Tradition heraus eine neue Deutung entwickelt. Heutige Oper für ein heutiges Publikum ist angesagt in Bregenz.
Dabei spricht die Vorlage eine ganz andere Sprache. Der „deutsche Wald“ – gibt es den überhaupt? – steht im Mittelpunkt dieser Oper, die all das verkörpert, was man schon damals, um 1820, als „typisch deutsch“ empfand: Naturverbundenheit, Innigkeit, Gemütstiefe und Redlichkeit. Und dazu jene Romantik, die sich im „Freischütz“ allerdings in einem recht äußerlichen Gespensterspuk manifestiert. Solche Schauergeschichten waren damals sehr in Mode, eine davon bildete auch die Vorlage für das Libretto, das Carl Maria von Weber vertonte. Jener Dresdner Komponist also, über den Kollege Hans Pfitzner später lapidar meinte: „Er ist auf die Welt gekommen, um den ‚Freischütz‘ zu schreiben.“
Ein großer Wurf
Tatsächlich gelang Weber damit ein großer Wurf. Seine raffinierte Klangfantasie zaubert innige Empfindungen in Mädchenseelen, Mondlicht auf Waldespfade, Dämonie der Natur in dunkle Schlucht. Schon in der Ouvertüre kündigen ein Streichertremolo und dumpfe Paukenschläge Unheimliches an, seelische Konflikte werden in Arien ausgetragen, und eine so grandiose Naturmusik wie die Wolfsschlucht-Szene war bis dato noch nicht erdacht worden – eine Vorahnung auf Wagners „Gesamtkunstwerk“. Doch bleibt bei Weber der volkstümliche Einschlag bestimmend, weil er sich bevorzugt herkömmlicher Formen und einfacher Melodien bedient. Damit ist dieses Bühnenwerk auch eigentlich keine Oper, sondern ein Singspiel, in dem Deutsch gesungen wird und dessen Musiknummern durch gesprochene Dialoge miteinander verbunden werden. Zwei Größen der Wiener Klassik haben das mit herausragenden Beispielen im Repertoire vorgemacht: Mozart 1791 mit seiner „Zauberflöte“, Beethoven 1805 mit seinem „Fidelio“.
Keine schlechten Vorbilder also für den „Freischütz“, der damals aus deutschen Landen frisch auf den Tisch kam, mit Webers packender Musik voll Farbenfreude und einer Fülle an heimeliger Melodienseligkeit fürs Herz und fürs Gemüt, wie das Publikum sie rasch goutierte. Eingebungen wie „Durch die Wälder, durch die Auen“ oder „Kommt ein schlanker Bursch gegangen“, das Gebet „Leise, leise, fromme Weise“, der trutzige Jägerchor „Was gleicht wohl auf Erden“ oder der liebliche Hochzeitsreigen der Mädchen, „Wir winden dir den Jungfernkranz“, eines der populärsten Volkslieder des 19. Jahrhunderts – alle haben sie auf der Longlist volkstümlicher deutscher Opern-Preziosen längst ihren Platz.
Bittersüße Liebesgeschichte
Da entwickelt sich nun in diesem traulichen musikalischen Ambiente auch jene bittersüße Liebesgeschichte um einen aufrechten Jägerburschen. Er darf seine Agathe auf Anweisung ihres Vaters, des strammen Oberförsters, nur nach einem Probeschuss heimführen, der genau ins Schwarze trifft. Förster-Azubi Max, bar jeder einschlägigen Erfahrung, geht deshalb einen Pakt mit dem Teufel ein, der ihm in der Wolfsschlucht eine absolut treffsichere Möglichkeit anbietet. Natürlich mit einem Gegengeschäft, das der Dramatik der Opernhandlung geschuldet ist. Es nimmt allein durch Gottes Hilfe alles ein gutes Ende, das wir hier freilich nicht verraten wollen. Denn ein bissel Spannung muss bleiben.
Jedenfalls wurde Webers „Freischütz“ schon vor 200 Jahren mit unglaublichem Enthusiasmus aufgenommen, hat seither europaweit nichts von seiner Frische und Attraktivität eingebüßt und ist bis heute eine der populärsten Opern im deutschsprachigen Raum, freilich seines Singspielcharakters wegen auch gefürchtet bei den Regisseuren. Philipp Stölzl hat für die Bregenzer Seebühne, die er auch optisch gestaltet, eine völlig neue Lesart gefunden. „Das ist eine jener stringenten Geschichten, die ich als Theaterspektakel mit kräftigen Bildern liebe, gehört in ihrer Mischung aus Musiknummern und Dialogen freilich auch zum Schwierigsten“, gesteht er. Man habe deshalb auch ausschließlich Deutsch sprechende Sänger gecastet und biedermeierlich verstaubte Dialoge aktuell als Sprechtheater aufbereitet.
Schneeflocken fallen
Stölzl lässt seinen „Freischütz“ in einem schäbigen Dorf spielen, das gerade eine Flutkatastrophe überstanden hat. Abgestorbene Bäume ragen aus einer Winterlandschaft, die die Zuschauer in ihren sommerlichen T-Shirts das Frösteln lehrt: „Der Wind weht, Schneeflocken fallen und man findet sich in einer rauen Welt wieder, in der Max um seinen Platz im Leben kämpfen muss und dem Teufel begegnet. Wir machen eine Art von magischem Realismus – das hat es seit Jérôme Savary in den Achtzigern hier nicht mehr gegeben.“
„Der Freischütz“ ist quasi das Abschiedsgeschenk von Intendantin Elisabeth Sobotka an Bregenz, bevor sie ihre Zelte an die Staatsoper Berlin verlegt. Möge die Übung gelingen!
Philipp Stölzl
Regisseur und Bühnenbildner
Er begeisterte bereits mit seiner Bühne und der Inszenierung für Giuseppe Verdis „Rigoletto “ 2019/21 das Festspielpublikum. Ursprünglich Bühnenbildner, widmete er sich später der Regie für Musikvideos und Werbefilme, schließlich für die große Kinoleinwand. 2005 kehrte er in Meiningen für „Der Freischütz“ an die Bühne zurück und ist seither erfolgreich in beiden Welten – Film und Theater – zu Hause.
Der Freischütz
Carl Maria von Weber
Romantische Oper in drei Aufzügen (1821) Libretto von Friedrich Kind nach der gleichnamigen Erzählung von August Apel (1810); Dialogfassung von Jan Dvořák nach einem Konzept von Philipp Stölzl
Musik. Leitung Enrique Mazzola, Erina Yashima
Inszenierung / Bühne Philipp Stölzl
Kostüme Gesine Völlm
Licht Philipp Stölzl, Florian Schmitt
Stunt- und Bewegungsregie Wendy Hesketh-Ogilvie
Chorleitung Lukáš Vasilek, Benjamin Lack
Ton Alwin Bösch, Clemens Wannemacher
Dramaturgie Olaf A. Schmitt
Festspielfahrt
Genießen Sie vor der Aufführung eine Fahrt mit unserem Jugendstil-Dampfschiff Hohentwiel und eine exklusive Einführung zu „Der Freischütz“ von einem Opernkenner. Um weitere Informationen inkl. verfügbare Termine zu unseren Festspielfahrten zu erhalten, klicken Sie bitte auf den Link für einen Besuch auf unserer Website – Festspielfahrten.