Das unbekannte Wesen
Für die ergreifende Geschichte der Cio-Cio-San erfand Bühnenbildner Michael Levine mit dem feingezeichneten, japanisch wirkenden Papier eine magische Plattform im Bodensee.
Er allein kann das Spiel um die unglückliche Liebe der Cio-Cio-San in Gang setzen und volle zwei Stunden lang auf Trab halten. Der Dirigent – das ist der in Barcelona geborene 54-jährige Italiener Enrique Mazzola, ein weltweit gefragter Opernspezialist. Der markante Charakterkopf mit Brille und Schuhen in roter Signalfarbe ist seit 2016 in Bregenz einer der gefragtesten Pultstars. Auf der gigantischen Seebühne ist er trotzdem nicht viel mehr als ein kleines, aber enorm wichtiges Rädchen im komplexen Getriebe, für das Publikum ab und zu nur auf einem der kleinen Monitore sichtbar. Der See-Dirigent – das unbekannte Wesen.
Letzten Sommer waren Sie der erste Dirigent bei den Bregenzer Festspielen, der die Auszeichnung „Conductor in Residence“ erhielt. War das so etwas wie ein „Ritterschlag“ für Sie, Chefdirigent von Bregenz zu werden?
Nein, „Conductor in Residence“ zu sein ist ein Zeichen der Freundschaft und der Zusammenarbeit mit den Festspielen. Es gibt keinen Musikdirektor oder Chefdirigenten bei diesem Festival, und ich bin glücklich, ein enger Freund all der Menschen zu sein, die an diesem wunderbaren Ort arbeiten.
Was bedeutet Bregenz für Sie in Ihrer Karriere – ist es so etwas wie ein Dreh- und Angelpunkt, an den man immer wieder gerne zurückkehrt?
Bregenz ist ein magischer Ort, um Musik zu machen, und ich glaube, jeder würde gerne den ganzen Sommer über hier sein. Meine Residenz ist für drei Sommer ausgelegt, und ich habe meine Pläne für die Sommer nach dieser Residenz noch nicht abgeschlossen. Wir werden sehen.
Wir haben uns 2016 zu einem ersten Interview in Bregenz getroffen, als Sie hier mit dem Donizetti-Requiem debütierten, ein Jahr später Rossinis „Moses in Ägypten“ als Hausoper dirigierten und 2019 mit Verdis „Rigoletto“ zum ersten Mal am See. Ihre Gedanken für Ihre eigene Zukunft in Bregenz sind damals weitgehend in Erfüllung gegangen – sind Sie ein Hellseher?
Nein, überhaupt nicht (lacht). Aber ich finde es toll, wie wir, die Festspiele und ich, eine Beziehung entwickelt haben, die auf Vertrauen, Zusammenarbeit und dem Austausch von Ideen basiert.
Sie haben im Vorjahr die neue Seeproduktion „Madame Butterfly“ mit aus der Taufe gehoben, dieses Jahr werden Sie zahlreiche Folgeaufführungen leiten. Wie viel Gefühl geben Sie Puccinis tränenreicher Oper mit auf den Weg?
Bei Puccini ist alles Gefühl, und ich würde sagen, dass alles weniger technisch ist als bei Belcanto. Bei Puccini gehe ich von der Präzision aus, und dann lasse ich es in die Leidenschaft und das Gefühl gehen.
Der Belcanto, für den Sie Spezialist sind, findet sich im weiteren Sinne auch bei Verdi und Puccini?
In der Tat! Selbst im späten Verdi und Puccini kann man in der Art der Gesangsphrasierung Anklänge an den Belcanto finden. Beide Komponisten kannten den Belcanto und seine Regeln genau.
Sie sind seit Jahren besonders verbunden mit dem Orchester der Wiener Symphoniker. Wie war es für Sie, mit diesen Musikern an Puccinis Oper mit ihren subtilen Farben und ihrem exotischen Kolorit zu arbeiten?
Ich denke, dass die Musiker sehr glücklich waren, an einer Puccini-Partitur zu arbeiten, die jedem mehr Ausdrucksfreiheit gibt. Die Streicher zeigten ihr üppiges Legato, die Bläser ihre „dolcezza“. Großartig!
Sie arbeiten bei dieser Seeproduktion ja unter ganz besonderen Bedingungen: nicht auf der Seebühne, sondern zusammen mit Chor und Orchester wettergeschützt auf der Bühne im Festspielhaus. Mit den Akteuren am See sind Sie nur durch Monitore, Mikrofone und Kopfhörer verbunden. Wie kann das funktionieren?
Nun, es ist alles eine Frage der Technik. Wir sind über Audio- und Videomonitore in Kontakt. Es stimmt, wir sind sehr weit voneinander entfernt, aber mit etwas Übung können wir zusammen singen und spielen wie in einem normalen Opernhaus.
Geht bei so viel Technik nicht der künstlerische Aspekt verloren? Müssen Sie Kompromisse eingehen?
Ich denke, alles beginnt mit einer grundsätzlichen Frage: Will ich, dass die Technik die Aufführung dominiert, oder andersherum? Ich nahm die Herausforderung an und beschloss, die Technik zum Nutzen einer wunderbaren Opernaufführung einzusetzen.
Ein besonderes Ereignis war die Premiere im letzten Jahr, die nach einer Stunde wegen eines Gewitters unterbrochen und drinnen fortgesetzt wurde?
So etwas passiert überall auf der Welt, wenn wir unter freiem Himmel auftreten. Letztes Jahr im Sommer ist das auch hier passiert, aber da hatten wir die Möglichkeit, unsere Premiere drinnen weiterzuspielen.
Fühlen Sie sich nicht eigentlich wohler, wenn, wie im letzten Jahr, vier Aufführungen ins Haus verlegt wurden und man hier ganz normale Konzertbedingungen vorfindet und das Publikum spürt?
Nein, im Allgemeinen fühle ich mich wohler, wenn wir eine wunderbare Sommernacht haben und wir unsere Aufführung ohne Probleme mit Regen und Wind draußen durchführen können.
Nächstes Jahr wird deutsche Romantik am See aufgeführt, Webers „Freischütz“ – werden Sie wieder dabei sein?
Ich werde 2024 zum „Freischütz“ in Bregenz sein, ja! Und um ehrlich zu sein, kann ich es kaum erwarten, dieses neue Projekt zu starten.
Wir danken für das Gespräch.
Giacomo Puccinis Meisterwerk erstmals 2022 auf der Bregenzer Seebühne.
Enrique Mazzola
Conductor in Residence
Sein Seebühnen-Debüt gab der in Barcelona geborene Italiener im Sommer 2019 mit der umjubelten Premiere von „Rigoletto“. Darüber hinaus leitete er 2017 die Oper im Festspielhaus „Moses in Ägypten“ sowie ein Orchesterkonzert. Bei den Festtagen im Festspielhaus 2020 dirigierte er zwei Orchesterkonzerte. Und auch in den kommenden Jahren steht Mazzola am Dirigentenpult bei den Bregenzer Festspielen: Die Oper im Festspielhaus „Ernani“ feiert am 19. Juli 2023 unter seiner musikalischen Leitung Premiere, ebenso das Spiel auf dem See „Der Freischütz“ am 17. Juli 2024.