Jeder findet einen Platz im Boot
Trainerin Sarah war erfolgreiche Ruderin bei Europa- und Weltmeisterschaften und bekam ein Stipendium an einer Universität in Minnesota, wo sie Marketing und Psychologie studierte. „Männer kriegen Football- und Frauen Ruderstipendien“, sagt sie und lacht. In Amerika trainierte sie zehnmal wöchentlich. Nach vier Jahren kehrte sie zurück. Nun will sie ihrem Verein etwas zurückgeben. „Julian, du musst zurückschauen!“, ruft sie und fährt hinterher. Es ist halb sieben Uhr abends. Beginn der offiziellen Ruderzeit. Männer und Frauen kommen um die Ecke, von jung bis alt, von Anfänger bis Profi. Einer von ihnen ist Tom Nussbaumer, der über seinen Sohn vor wenigen Jahren zum Rudern kam. Alle begannen mit einem Grundkurs.
Eine wackelige Angelegenheit
Rudern schaut kinderleicht aus. Aber hoppla, schon liegt man im Wasser. Die Rudertechnik wird oft unterschätzt. Gefragt ist ein hohes Maß an Koordinationsfähigkeit. Grundkurse beginnen jedes Jahr im Frühling und dauern zwei Monate. An zwei Abenden pro Woche probiert man zuerst am Ruderergometer, bevor es im Doppelvierer auf den See geht. Auf dem Wasser übt man die Balance und macht halbe Eskimorollen, denn früher oder später kippt jede(r). Dann heißt es, sich wieder reinhieven oder mit dem Boot zurück ans Ufer schwimmen; und das kann dauern. Man lernt den See zu lesen, Ruderbegriffe, den Umgang mit den Booten und Ruderkommandos. Nach ungefähr vierzehn Fahrten ist man noch nicht gut, aber so weit, dass man eine gewisse Distanz mit einer Wende rudern kann, ohne zu kippen.
Glück im Gleichschlag
„Nach dem Grundkurs kommt man zu den Ruderzeiten einfach her und schaut, wer da ist“, sagt Tom. Locker und unkompliziert werden Zweier-, Dreier- und Vierergruppen gebildet, oder man fährt allein. Die richtigen Leute finden zusammen. Man macht sich aus, wer welche Position einnimmt, wer wo sitzt, wer am Schlag den Takt vorgibt. Je nachdem, ob man mit oder ohne Steuermann fährt, sucht sich jedes Team das entsprechende Boot. „Ich finde immer ein Boot, mit dem ich mitrudern kann“, sagt Tom. „Es bleibt nie jemand über.“ Mittwochabends und Samstagfrüh findet begleitetes Rudern statt, wo man von erfahrenen Mitgliedern lernen kann. „Das ist super organisiert, ohne Druck und sehr angenehm.“ Getragen von der rhythmischen Bewegung beginnt man sich zu entspannen. Wenn alle im Flow sind, gleitet das Boot dahin. Eine Ausfahrt dauert etwa eine Stunde oder länger.
Über den See wandern
Rudern zählt zu den gesündesten Sportarten. Alle Muskeln sind in Bewegung. Es gibt so gut wie keine Verletzungen und keine Schläge auf die Gelenke. Außer im Wettkampf spielt Kraft keine Rolle. Auf den Rhythmus und die Technik kommt es an. Von etwa 110 Frauen und 90 Männern sind die Jüngsten zehn, die Ältesten über achtzig Jahre alt. Freundschaften entstehen. Ehen werden geschlossen. Beliebt sind mehrtägige Wanderfahrten und Vollmondfahrten. Manche trainieren ehrgeizig. Manche rudern zum nächsten Gastgarten. Manche zählen Kilometer. Manche mögen´s sportlich, wollen sich aber nicht messen. Die einen rudern schweigend, die anderen plaudern und manche praktizieren „Blätterbaden“ oder „Teebeutelrudern“; so nennen es Insider zum Spaß, wenn jemand Ruderblätter wie Teebeutel behandelt: eintauchen, ins Wasser hängen, ziehen lassen, heben.

Der Schatz im Bootshaus
Der Ruderverein Wiking wurde 1900 gegründet und war nach dem RV Neptun in Konstanz der zweite am Bodensee. Im ersten Jahr hatte der Verein acht Mitglieder, von denen die meisten Bergsteiger und Turner waren. Das erste Bootshaus war ein Holzschuppen am Brettermarkt, wo heute das Casino steht. Als 1970 das neue Bootshaus öffnete, lag die schrottreife Hohentwiel nicht weit davon entfernt. Viele Kinder begannen zu rudern. Unter ihnen war Ursula Leissing, die nach Studium und Familiengründung auch wiederkam und sich acht Jahre als Präsidentin engagierte. Im Verein wird alles selbst gemacht. Angestellte gibt es keine. Der Mitgliedsbeitrag beträgt 250 Euro, plus 70 Euro Aufnahmegebühr. Die Mitglieder verpflichten sich, acht Stunden im Jahr zu helfen. Ursula Leissing sperrt das Bootshaus auf. Ein überwältigender Anblick. Hier liegen 92 formschöne, perfekt gepflegte Ruderboote verschiedener Typen, von denen jedes um die zwanzigtausend Euro gekostet hat. Ein lackiertes Zedernholzboot mit dem Namen Wiking sticht heraus. Klinkerbauweise. Rollsitze für vier Ruderer. 130 Jahre alt. Handwerkskunst vom Feinsten. Zwei Weltkriege hat es überstanden, weil es von einem umsichtigen Verantwortlichen versteckt wurde, als in Notzeiten alles, was aus Holz war, verheizt wurde. In tausenden Arbeitsstunden wurde es restauriert und in Originalzustand versetzt. Die Restauratoren der Hohentwiel standen beratend zur Seite.
Coastal Rowing
Neben dem Zedernboot liegt die jüngste Anschaffung – ein doppelwandiges Coastal Boat, mit dem man bei hohen Wellen und Wind rudern kann. Coastal Rowing heißt die Wildwasser-Variante. Gerudert wird auf dem offenen Meer oder auf von Schifffahrt frequentierten Gewässern wie dem Bodensee. Das Boot liegt stabil im Wasser, erreicht durch sein Surfverhalten hohe Geschwindigkeiten und ist nahezu unsinkbar. Aufgrund seiner Eigenschaften können Ruderanfänger jeden Alters die Faszination Rudern erleben. Schon mit wenig Kraftaufwand erreicht man hohe Geschwindigkeiten und wird mit Spaß belohnt. Bei Olympiaden soll bald das Leichtgewichtsrudern dem Coastal Rowing weichen. 2023 wird der Ruderverein Wiking einen Versuch starten und die erste Coastal Rowing Regatta in Hard organisieren.
Morgens um sieben
Viele rudern am liebsten bei Sonnenaufgang, wenn die großen Schiffe noch vor Anker liegen. Am Ufer läuten die Kirchturmglocken. Ein Rotauge platscht aus dem Wasser. Wenige Fischerboote sind unterwegs. Sarah Reimann zieht eine pfeilgerade Linie über den spiegelglatten See und verschwindet in der Ferne. Ursula Leissing rudert mit zwei Frauen im Dreier – routiniert, konzentriert. Tom Nussbaumer rudert diesmal mit seinem Sohn. Flapp, Flapp, Flapp machen die Ruderschläge. Die Sonne kriecht über den Pfänderrücken und beleuchtet Lindau. Bregenz liegt noch im Schatten. Rhythmisch schlagen die Ruder, sie bewegen sich vor und zurück, ziehen durch und atmen ruhig. Sie gleiten dahin und sind mit sich und der Welt im Einklang.
Kurze Wende über Backbord
Das kleine Ruder-ABC
- Ruderer sitzen mit dem Rücken zur Fahrtrichtung.
- Der Steuermann schaut in Fahrtrichtung, sitzt also genau umgekehrt.
- Backbord ist die in Fahrtrichtung linke Seite des Bootes, Steuerbord die rechte Seite.
- Die vordere Spitze wird Bug genannt. Hinten ist das Heck. Dort liegt das Steuer. Daran sind Leinen oder Drahtseile festgemacht, mit denen die Fahrtrichtung verändert werden kann.
- Es gibt zwei verschiedene Arten des Ruderns. Beidseitige Ruderstangen heißen Skulls. Die mit Skulls ausgeübte Rudertechnik wird als „Skullen“ bezeichnet. Skullruderer werden „Skuller“ genannt.
- Riemen sind Ruder, die von einer Person mit zwei Händen bewegt werden.
- Riemenboote können nur mit einer geraden Anzahl an Ruderern gefahren werden. Eine Ausnahme findet man bei den Gondolieri in Venedig, die nur mit einem Riemen ihr Boot antreiben.
- Beim Sportrudern kann man Skullen oder Riemenrudern, individuell im Einer fahren oder als Mitglied eines Ruderteams mit zwei, vier oder acht Ruderern.
- Im Leistungssport sagt man bei Skullern Doppelzweier und Doppelvierer. Das „Doppel“ steht für die Anzahl der Ruderblätter.
- Im Laufe der Geschichte haben sich verschiedene Bootsklassen entwickelt. In einem Einer sitzt nur ein Ruderer. Den Zweier und Vierer gibt es sowohl mit wie auch ohne Steuermann. Der Achter wird immer mit Steuermann gefahren.
- Rollsitz nennt man den beweglichen Sitz des Ruderers. Die Füße sind über das Stemmbrett am Boot fixiert. Durch den Einsatz der Beinmuskulatur wird der Vortrieb vergrößert. In der Sitzschale sind häufig zwei Löcher für die Beckenknochen eingearbeitet.
- Mit dem Rollsitz haben Ruderer am meisten Kontakt. Er signalisiert, ob das Boot gerade liegt oder kippt. Deshalb sagt man von Ruderern, sie hätten ein zweites Gleichgewichtsorgan im Gesäß eingebaut.
- In Rennbooten sind auf dem Stemmbrett leichte Sportschuhe fest eingebaut, in die der Ruderer hineinschlüpft. Das Stemmbrett hat die Aufgabe, unterschiedliche Körperlängen der Ruderer auszugleichen.