Kurioses Niemandswasser
Seefrieden
Um es vorneweg zu sagen, der See trennt Völker nicht, sondern verbindet. Das am meisten Verbindende war der See selbst, nämlich als Transportweg. Grenzen hätten den Handel kompliziert gemacht. So lief der Warenaustausch stets wie geschmiert. Auch heute ist man sich über wichtige Dinge einig: Fischzucht, Wasserqualität, Beschränkung der Bootsliegeplätze, Schifffahrt, Seepolizei und Wasserrettung sind geregelt. Aber alle heiligen Zeiten erhebt jemand Besitzanspruch, und dann kracht es doch.
Antike Seeschlacht
Vor Christi Geburt gerieten Römer und Kelten aneinander. Tiberius und Drusus waren dabei, Rätien zu erobern. Drusus kam von Norditalien über die Alpen, während Tiberius ein Heer von 10.000 Legionären in einem Römerlager bei Waldshut sammelte, um nach Augsburg vorzustoßen. Am Bodensee ließ er Transportschiffe bauen. Möglicherweise diente die Insel Mainau als Stützpunkt. Es soll zu einem Seegefecht mit dem hier lebenden keltischen Stamm der Vindeliker gekommen sein, das die Römer für sich entschieden. Danach war tausendfünfhundert Jahre lang Ruhe, bis es zwischen Eidgenossen, Habsburgern und Schwaben ordentlich zur Sache ging.
Von Eidgenossen und Schwaben
„Lieber toter Eidgenosse als lebendiger Schwabe!“ Mit diesen Worten brachten Schweizer ihren Hass zum Ausdruck, die Opfer eines brutalen Plünderungszuges schwäbischer Truppen im Frühsommer 1499 geworden waren. Die Scharmützel und Raubzüge des Schwaben- beziehungsweise Schweizerkrieges wüteten ein halbes Jahr und waren ein tiefer Einschnitt in der Geschichte der Beziehungen zwischen Schweizern und Schwaben. Das Gemetzel am Seeufer war blutig. Bei Höchst drängten die Eidgenossen die Söldner in den Sumpf; viele ertranken beim Untergang überladener Schiffe. Als im September 1499 in Basel der Frieden beschlossen wurde, waren beide Seiten kriegsmüde. Schweizer mussten noch Jahrzehnte später damit rechnen, wörtlich oder tätlich angegriffen zu werden. Die Bodenseenachbarn traten nicht gerade als Freunde in das 16. Jahrhundert ein.
Von Unglücken gelernt
Vor dem Krieg hatte es zum Alltag gehört, dass sich Schwaben und Schweizer auf den vielen Schiffen trafen. Sie plauderten und halfen sich gegenseitig, wenn sie wieder einmal aus heiterem Himmel von einem Gewittersturm überrascht wurden. Schiffsunglücke gab es viele. Beim Untergang eines St. Galler Marktschiffes im 16. Jahrhundert ertranken 25 Menschen. Sieben Schiffe versanken in einem Jahr. Viele verloren ihr Leben. Ein Korn- und Warenschiff aus St. Gallen verlor eine Ladung von 4.000 Gulden Wert. Überstandene Gefahren stärkten den Zusammenhalt. Der Schiffseigner Kaspar Brusch schilderte 1548, dass sein Schiff wegen Überladung zwar in zwei Teile brach, aber alle Insassen gerettet wurden.
Vom Recht, sich zu betrinken
Der Weintransport spielte eine herausragende Rolle. Es gehörte zum Ritual, auf Schiffen gemeinsam zu trinken. Schiffsleute hatten ein Freitrunkrecht. Mit einem Ding – halb Bohrer, halb Trinkhalm – stach man Fässer an und füllte sie am Zielort mit Bodenseewasser wieder auf. Das Freitrunkrecht wurde kräftig ausgenützt, indem man vorsorglich schon mal für die Rückfahrt Wein in mitgebrachte Flaschen oder Fässchen abfüllte. Während der Fahrt hängten sich mehrere fremde Schiffe an den Weintransporter, um ebenfalls in den Genuss des Freitrunks zu kommen. Da die Alkoholisierung manches Unglück verschuldete, versuchten die Bodenseestädte ab 1580 in gemeinsamen Konferenzen gegen den Missbrauch anzukämpfen, mit wenig Erfolg. Eine Konstanzer Ordnung begrenzte schließlich die Trinkmengen – jedem Mann standen vierzig Liter in fünf Tagen zu. Das sind acht Liter pro Mann. Prost Mahlzeit!
Blutiger Handel
Nicht einmal der Austausch von Kriegsmaterial über den Bodensee war beschränkt. Ein Tuchhändler betrieb nebenbei einen schwunghaften Waffenhandel (Spieße, Hellebarden, Hauben, Hakenbüchsen) mit eidgenössischen Großkunden. 1530 wurde eine große Kanone von Lindau nach St. Gallen geliefert. Die St. Galler wiederum ließen auf Empfehlung der Stadt Überlingen mehrere Kanonen in Langenargen gießen. Als jedoch Karl V. in Stein am Rhein um Waffenlieferung ansuchte und zwei Händler damit begannen, in der Schweiz Harnische für Österreich aufzukaufen, intervenierte die Stadt Zürich – sie wollten Harnische weder verkaufen noch Fremden zuschicken, sondern gänzlich davon absehen. Etwa hundert Jahre später donnerte es dann noch einmal. Und zwar kräftig.
Kanonendonner
Im Dreißigjährigen Krieg belagerten die Schweden Lindau. 1632 nahmen die Protestanten Radolfzell ein, kaperten kaiserliche Schiffe und bauten sie zu Kriegsschiffen um. Im heutigen Friedrichshafen errichteten die Schweden eine Werft und bauten dort das größte Bodensee-Kriegsschiff mit 22 Kanonen an Bord. Sie belagerten Lindau und Konstanz so effektiv, dass sie Zoll- und Steuereinnahmen auf Salz erheben konnten. Nach einer für die Schweden verloren gegangenen Schlacht bei Nördlingen wurden alle schwedischen Schiffe versenkt und die Truppen aus dem Bodenseeraum zurückgezogen. Noch beliebter, als sich Seeschlachten zu liefern, war es jedoch, reich beladene Schiffe des Feindes zu kapern.
„Beschmalzen“
Anno 1548 litt Überlingen unter Buttermangel und bat St. Gallen in einem Brief darum, wöchentlich zwanzig Zentner Schmalz über den Bodensee zu liefern. Dies könne mit demselben Schiff geschehen, welches – besetzt mit St. Galler Kornkäufern – regelmäßig von Steinach auf den Überlinger Wochenmarkt fahre. Es war nicht das erste Mal, dass St. Gallen Überlingen „beschmalzte“.
Butterfahrten
Vierhundert Jahre später hatte es die Butter einem jungen Schweden angetan. Seine grenzüberschreitende Geschäftsidee war spektakulär und frech. In den siebziger Jahren war ihm zu Ohren gekommen, dass es im „Schwäbischen Meer“ keine Staatsgrenzen gibt. Er charterte ein Ausflugsschiff, fuhr damit auf die Mitte des Sees und verkaufte zollfrei Butter, Käse, Alkohol und Tabak, sorgte europaweit für Schlagzeilen und bereitete den Juristen Kopfzerbrechen. Hier waren sich die Anrainerstaaten schnell einig, aber sie konnten das lukrative Geschäft erst stoppen, indem sie das Anlegen des „Butterschiffes“ an allen Bodenseehäfen verboten. Bis dahin hatte der Skandinavier viele Millionen Franken verdient.
Süßstoff im Sarg
1913 fiel deutschen Zollbeamten auf, dass merkwürdig viele tote Schweizer auf deutschem Boden begraben wurden. Als sich ein düsterer Leichenzug über die Grenze bewegte, ließen sie den Sarg öffnen; statt des Toten fanden sie mehrere Zentner wohlverpackten Saccharins. Im Gegensatz zu den umliegenden Ländern war Saccharin im Schokoladenland Schweiz frei erhältlich. Die „trauernden Hinterbliebenen“ waren ebenfalls vollgestopft mit zollpflichtigen Waren. Der ganze Schmuggler-Leichenzug wurde festgenommen und hinter Schloss und Riegel gesteckt.
Geisterflotte
Am Ende des Zweiten Weltkrieges wollten die Nazis alle ehemaligen österreichischen und bayerischen Schiffe versenken, bevor sie in die Hände der Besatzungsmacht fielen. Nicht allen gefiel das. Eine geheime Mission sollte die Schiffe retten. Als die französische Armee näher rückte, mussten schnell Männer gefunden werden, um die kaltgestellten Dampfschiffe in Lindau und Bregenz aufzuheizen. Im Schutz der Dunkelheit steuerte die „Geisterflotte“ bestehend aus 5 Raddampfern, 4 Motorschiffen und 2 Motorbooten die Häfen Romanshorn, Arbon, Rorschach und Staad an. Während die Schiffe in Sicherheit bleiben durften, verbot man den Männern, Schweizer Boden zu betreten. Man pferchte sie in ein Motorboot und verschiffte sie zurück.
Fischereikrieg
Schwierig wird´s, wenn Menschen auf Grenzen beharren, die völkerrechtlich nie abgesegnet wurden. Das tat der Bregenzer Berufsfischer Martin Bilgeri. Ein jahrelanger Streit eskalierte 1991. Seiner Meinung nach besaß er Fischereigründe bis zur Seemitte, bezichtigte die deutschen Konkurrenten, in seinem Revier zu fischen, und kappte ihre Netze. Ein Lindauer Berufsfischer und sein Neffe legten sich auf die Lauer, um den bösen Nachbarn auf frischer Tat zu ertappen. Es kam zu einer Konfrontation mit der deutschen Wasserschutzpolizei. Bilgeris Schiff kenterte. Er und sein Sohn landeten im Wasser – seiner Meinung nach wurde er absichtlich von der deutschen Polizei zum Kentern gebracht.
Folterschiff
Jahrelang waren Swinger-Fahrten auf dem Bodensee beliebt. Während der brave Bürger zu Tanztees, Muttertagsfahrten, zum Seenachtfest und zu den Festspielen aufbrachen, trugen die Gäste an Bord des „Torture Ship“ Hotpants, High Heels, Uniformen, Leder-Corsagen und Latex-Kleidchen auf viel nackter Haut. Liegeflächen zum „Schnackseln“ gab es nicht, aber 600 Gäste konnten sich fesseln und den Popo verhauen lassen. Lange störte sich keiner daran, bis 2014 die CDU das Treiben verbieten wollte und aus einem Wahlkampf eine Provinzposse machte.
Zoll auf dem See
Der Untersee bot sich immer schon an, um offizielle Grenzübergänge zu umgehen. Während in den Dreißigerjahren Flugblätter und illegale Schriften über den See gerudert wurden, sind es heute paketweise gebündelte 500-Euro-Scheine, die ins Schweizer Steuerparadies transportiert werden. Im Gegensatz zum Großteil des Sees wurde der Untersee im 19. Jahrhundert klar aufgeteilt. Denn Zollfahndern hilft es, auf den Meter genau zu wissen, wo die Grenze im See verläuft, damit sie wissen, bis wohin sie zugreifen können. Seit 2008 markiert ein roter Strich unter Wasser den genauen Grenzverlauf. Es ist ein fluoreszierendes rotes Band aus einer reißfesten Kunststofffolie. Um keine Seite zu bevorzugen, wurde das Band im neutralen Vorarlberg gekauft.
Ins Eis gesägte Grenze
Dass es diese Grenze gab, war für jüdische Flüchtlinge eine Tragödie. Sonst hätten sie im eisig kalten Kriegswinter 1940, als der Untersee zufror, über den See in die sichere Schweiz flüchten können. Zu ihrem Pech sägten die Schweizer Grenztruppen eine fünf Meter breite Rinne in das Eis, um ihnen den Weg abzuschneiden.
Pestflüchtlinge
Erinnerungen an Stäbchen tief in der Nase lassen uns immer noch Tränen in die Augen schießen. Vor fünfhundert Jahren gab es das nicht. Aber damals wie heute verbreiteten sich Viren über den See. Zum Schutz der Bevölkerung wurden in vielen Städten unterschiedliche Pestordnungen erlassen. 1519 wütete die Pest besonders auch in der Universität in Freiburg im Breisgau. Statt Distance Learning entschloss man sich kurzerhand, den Unterricht nach Lindau zu verlegen. Die Lindauer weigerten sich, die Pestflüchtlinge einzulassen. Also wurden die Vorlesungen in Wasserburg abgehalten. Einheit-liche Verordnungen über Ländergrenzen hinweg würden die Bekämpfung einer Pandemie wohl erleichtern, allerdings wäre folgende Geschichte nie passiert.
Drei Felchen für 900 Euro
Die Grenzen der drei Länder waren bereits geschlossen, als zwei Schweizer in der Bregenzer Bucht ihre Angeln auswarfen, dort, wo der See 80 Meter tief und somit für die Österreicher internationales Gewässer ist. Das war der Bezirkshauptmannschaft in Bregenz nicht klar, schließlich wird über Grenzverläufe sonst auch geschwiegen. An die Männer erging ein Strafbefehl, weil sie sich an einem öffentlichen Ort trafen, obwohl sie nicht im gleichen Haushalt wohnten – ein Verstoß gegen die österreichische Covid-19-Verordnung. Sie sollten 900 Euro bezahlen. Die Fischer wehrten sich mit dem Argument, sie hätten genügend Abstand gehalten, das Boot sei groß genug gewesen und sie hätten die Geräte nach dem Gebrauch mit Desinfektionsmittel abgewischt. „Wenn alle Stricke reißen, gehe ich lieber in den Bau und hocke das ab.“
Schildbürgerei
Der Schweizer Besitzer eines neun Meter langen Motorbootes kam während der Pandemie auf eine besondere Idee. Er rief die Betreiberfamilie der Marina an und fragte, ob sie sein Boot nicht mitten auf den See fahren könnten. Er würde mit einem Freund auf einem zweiten Boot aus der Schweiz kommen und es auf der Seegrenze übernehmen. Mit steckendem Zündschlüssel schleppte die Familie das Gefährt des Schweizer Besitzers mit einem ihrer Boote auf den See, der zwischen Kressbronn und Romanshorn etwa 13 Kilometer breit ist. Am Treffpunkt wurde die Schleppleine gelöst, so dass es zwischen beiden Parteien keine Berührung gab. Schließlich musste die Abstandsregelung eingehalten werden.
Von Geburt bis Tod
Wir wollen hoffen, dass niemand auf dem See starb – ob mit oder an Corona, ist dann auch schon egal. Außerdem hoffen wir, dass Sie an Bord kein Baby zur Welt bringen müssen. Und sollten Sie eine Wasserleiche finden, bringen Sie sie am besten an ein Ufer. Denn obwohl sich die Staaten in allen drei Fällen auf Grundsätze verständigt haben, ist es nicht ganz einfach herauszufinden, welcher Standesbeamte in so einem Fall zuständig ist. Ähnlich kompliziert gestaltet es sich bei Flugzeugabstürzen.
Bergung eines Wracks
1989 stürzte eine Maschine bei Rorschach in den See. Sie kam aus Wien. Beim Anflug auf Altenrhein verloren elf Insassen ihr Leben. Am Steuerknüppel saß die „Rheintalflug“-Mitinhaberin Brigitte Seewald, an Bord war auch der Sozialminister von Österreich, Alfred Dallinger. Damals gelang es, das Flugzeug schnell zu orten und nach tagelangen Vorarbeiten das Wrack mit allen Todesopfern zu bergen. Im Katastrophenfall arbeiten die drei Anrainerstaaten gut zusammen. Allerdings stellt sich stets die Frage, wer sich wie stark an den Kosten beteiligen muss. Noch gravierender wird es, wenn eine vermeintlich radioaktive Bedrohung vorliegt, wie in folgendem Fall.
Radioaktives Cäsium
Fünf Jahre später stürzte erneut eine Cessna in den Bodensee. Nachdem die Maschine vom Radarschirm verschwunden war, rückten Hilfsmannschaften aus. An Bord waren der Pilot, zwei Bardamen, ein Hund und zwei Geschäftsmänner, die angeblich in Waffenhandel mit radioaktivem Material verstrickt waren. Der Bodensee sei durch Cäsium verseucht. Europas größter Trinkwasserspeicher schien in Gefahr. Das Volk geriet in Panik. Katastrophenschützer tüftelten Alarmpläne für den Super-GAU aus. Eine gute Woche nach dem Absturz wurde die Maschine geordnet. Tauchroboter kamen zum Einsatz. Es wurden nur drei der fünf Insassen gefunden – der Pilot, eine der beiden Frauen und der Hund blieben im kalten Wasser verschollen. Ein Lehrstück zeitgenössischer Verschwörungshysterie. Die Bild-Zeitung titelte: „Atomhändler der Russenmafia“ und spekulierte mit über „70 Kilo Atom im Bodensee“. Zudem gab es Verwirrungen um das nicht radioaktive Cäsium 133 und das strahlende Cäsium 137. Der Aufmarsch der Medien war extrem. Fünf Jahre später wurde geklärt, dass technische Probleme den Piloten zur Notwasserung zwangen und dass die Cäsium-Theorie wohl eher der blühenden Fantasie eines Bild-Reporters zuzuschreiben ist. So richtig spannend wird die Grenzfrage dann, wenn zwischen Rorschach, Bregenz und Lindau ein Hobbytaucher auf Erdöl oder Erdgas stößt.