Wie der See auf den Berg kommt
In St. Gallenkirch parkt Julia neben der gigantischen Baustelle der neuen Valisera Bahn und dem Silvretta Park Montafon, die im Dezember 2021 fertiggestellt wird. Hier sollen sich Gäste, Einheimische und Mitarbeiter:innen begegnen. Eine wichtige Begegnung fand bereits auf der Baustelle statt: Markus Oberhammer (Geschäftsführer der Silvretta Montafon) und Markus Flatz (Baustatiker und an der Renovierung der Oesterreich beteiligt) hatten eine Idee: Man müsste ihre Firmen – die historischen Schiffe und die Berge – zusammenbringen, sich gegenseitig befruchten, den Gästen einzigartige Erlebnisse und den Mitarbeiter:innen mehr Chancen bieten. Im Winter könnten die Techni-ker:innen der Schiffe an Skiliften und Seilbahnen im Montafon arbeiten, und im Sommer könnte das Gastronomiepersonal vom Montafon auf den Schiffen aushelfen. Sie sprachen mit ihren zuständigen Ressortleiterinnen Franka Feldt und Julia Bösch, die sofort Feuer fingen. Die Silvretta Montafon Holding GmbH gehört der BTV (Bank für Tirol und Vorarlberg) und besteht aus verschiedenen Firmen, zu denen Bergbahnen, Gastronomie, Sporthotels, Sportshops, Verleihshops und Unterkünfte gehören. Die Historische Schifffahrt Bodensee GmbH besteht seit dem 1. Juni 2021 und betreibt die beiden historischen Schiffe – das Dampfschiff Hohentwiel und das Art déco-Motorschiff Oesterreich – auf dem Bodensee.
Gemeinsam auf den Weg machen
Mit der Grasjoch Bahn geht es in der 8er Gondel nach oben. Meter für Meter entfalten sich die Alpen und der tiefblaue Himmel. Franka wird Julia eine ihrer liebsten Wanderrouten zeigen. Am Grasjoch verlassen sie die Bahn auf 1976 Meter Höhe. In der Ferne das Klostertal, der Sonnenkopf, tief unter ihnen das Silbertal. Kolkraben breiten ihre Schwingen aus. Julia entdeckt Steinböcke. Franka deutet auf ein Gipfelkreuz: der Scheimersch. „Den werden wir im Uhrzeigersinn umrunden. Da verteilen sich die aufzusteigenden Höhenmeter etwas besser.“
Hintereinander wandern die Frauen im Schatten über einen wunderschön gelegenen Pfad einen steilen Grasrücken entlang. Unter ihnen endet die Lawinenverbauung. Preiselbeeren, Heidelbeeren, Alpenrosen, Flechten und Moose, Wacholder, Erika und Glockenblumen säumen den Weg. So viele Farben. Vom Bergbahngebiet bewegen sie sich weg in Richtung unberührte Alpen. Ein wahres Gipfeltreffen an höchsten Bergspitzen kann von hier aus bewundert werden: Zimba, Drei Türme, Drusenfluh, Sulzfluh, Valschavieler Maderer, Zamangspitze, Hochjoch und, von Schnee bedeckt, der Piz Buin.
Geologisch ist das Montafon eine der interessantesten Regionen der Alpen. Drei Gebirgsketten (Rätikon, Verwall und Silvretta) treffen aufeinander, mit einer bunten Vielfalt von Gesteinen, deren Entstehung 2 Milliarden Jahre zurückreicht. Im hellen Kalkgestein findet man mitunter schöne Fossilien. Gneise, Glimmerschiefer, Phyllite, Granitgneise und grünliche Amphibolite. Eisen, Kupfer und Silber wurden hier gewonnen. Ab 1300 zogen die „Silberer“ ins Silbertal und die an der Rodung hoher Berghalden beteiligten Walser ins Montafon. Auf den Halden vor den Stollen der Silber- und Kupferbergwerke bildete sich eine einzigartige Pflanzengemeinschaft.
Auf der gegenüberliegenden Bergseite, dort wo der Schatten auf die Sonne trifft, liegt der Ort, wo ihr zweites Treffen stattfand, im Rahmen eines Bergfrühstücks auf der Nova. Ganz in der Nähe glitzern die Gondeln der Versettla Bahn in der Sonne. Die Silvretta Montafon lud drei Mitarbeiter:innen der HSB ein. Zum Brainstorming. Die Köpfe rauchten. Schon im Sommer 2022 soll es ein buchbares Produkt geben. Kombinieren können sie alles: Bootfahren und Skifahren. Bootfahren und Wandern. Gipfel und Meereshöhe. Unendlich viele Möglichkeiten. „Nur verzetteln dürfen wir uns nicht“, sagt Franka. Einig sind sie sich, dass die Kulinarik eine wichtige Rolle spielen soll. Auf den Bergen isst man ebenso gut wie auf den Schiffen. Die VINNOVA ist die höchstgelegene Weinstube Vorarlbergs. „Man nimmt sich Zeit, sitzt auf der Terrasse und genießt das Panorama, probiert Wein, isst alpine Tapas und lauscht den Geschichten des Sommeliers“, erzählt Franka. „Wahrscheinlich werden wir etwas anbieten mit zwei oder drei Übernachtungen, einem Erlebnis am See und einem am Berg. Daran arbeiten wir jetzt“, sagt Julia.
Natur, die verbindet
Sie erreichen eine exponierte Stelle. Über steil abfallenden Hängen bilden ein Felszacken und eine Tanne eine Art Tor. Daneben ein gelbes Schild, das auf das „Europaschutzgebiet Verwall“ hinweist. Hier kann man Steinadlern, Uhus und Wanderfalken begegnen, Alpenschneehühnern, Auer-, Birk- und Haselhühnern und einem Dreizehenspecht. Das Verwallgebiet ist für seine Ursprünglichkeit und Einsamkeit bekannt.
Die Kraxelei auf den Scheimersch-Gipfel (2.420 m) lassen sie aus, überqueren ein Feld aus Steinblöcken, überwachsen mit grünen Flechten. Wegen dieser Stelle wird die Wanderung als „recht anspruchsvoll“ angegeben. Die Steine wackeln. Trittsicherheit, Motorik und Orientierung sind gefragt. Die Baumgrenze haben sie längst überschritten. Im Zickzack geht es ein Geröllfeld bergauf und über ein kleines Joch. Oben angekommen. Aufatmen! Wollgras, Sonnentau und Moosbeeren wiegen sich an einem Moor. Unter ihnen glitzert der Obere Alpguessee smaragdgrün und so klar, dass sie Fische sehen können. Die schwarze Felswand sieht aus wie ein Scherenschnitt. Die Frauen rasten, teilen sich Nüsse und trinken. Murmeltiere stoßen ihre Warnpfiffe aus. Das Wort „Alpguess“ kommt aus dem Rätoromanischen, das hier bis ins 15. Jahrhundert gesprochen wurde.
Die Hälfte ist geschafft. Nun geht es steil bergab am Unteren Alpguessee vorbei bis zum tiefsten Punkt der Tour, der Alpguesalpe. Man könnte meinen, in der Filmkulisse zu „Heidi“ gelandet zu sein. Die Alpe an einem kleinen See ist umgeben von unzähligen Lärchen. Goldrauschstimmung. Die Weite des Plateaus erstrahlt in der wolkenlosen Herbstsonne in Gelb, Orange und Gold. Rot leuchtet das Heidekraut. Hirsche röhren zwischen Felswänden. Freier Blick hinunter ins Silbertal.
Julia Bösch (HSB) und Franka Feldt (Silvretta Montafon) bei der Umrundung der Scheimersch.