Der rettende Anker
Am 23. März 2012 steht die neunundzwanzigjährige Angelina Steurer-Maier auf einer Leiter im Garten ihrer Oma. Ein sonniger Freitagnachmittag. Der Baumschneider war da. Angelina verschließt die Wunden der Äste mit Baumwachs, als ihr Pager am Gürtel piepst. Sie wirft einen Blick auf das Display. Es ist ein W4, ein Großereignis für die Wasserrettung. Angelina fährt zum Wocherhafen nach Bregenz. Zeugen haben beobachtet, wie ein Ultraleichtflugzeug mit zwei Menschen an Bord in den Bodensee gestürzt ist. Helikopter kreisen. Rettungstaucher schwärmen aus. An der Absturzstelle ist der See fünfzig Meter tief. Der Einsatzleiter gibt eine Pressekonferenz. Sebastian Hellbock leitet viele Großeinsätze, führt die Mannschaft ruhig und besonnen. Hektik würde sich sofort übertragen, vor allem wenn die Hoffnung, Menschen lebend bergen zu können, von Minute zu Minute schwindet.
Die große Chance
Angelina unterrichtet an einer Mittelschule. Um mit Kindern schwimmen zu dürfen, machte sie den Helferschein. „Danach posaunte ich groß herum, dass ich beim nächsten Retterschein dabei bin. Als es so weit war, traute ich mich nicht, abzusagen.“ Ihre ersten Einsatzdienste machte Angelina im Waldbad Enz. Was sie wirklich reizte, war der Bodensee. Also hängte sie das Schiffer- und Radarpatent, das Seefunkzeugnis und eine komplette Erste-Hilfe-Ausbildung dran. Sebastian Hellbock lockte das Tauchen. Nachdem er es bis zum Tauchlehrer gebracht hatte, lernte er die Wildwasserrettung mit Canyoning und Rafting. „Wir schätzen es sehr, dass wir all die hochqualitativen Ausbildungen bekommen. Privat müssten wir dafür viel Geld bezahlen. Deshalb sind wir bereit, Piepser zu tragen und stets alarmbereit zu sein. Wir lassen uns ständig fort-, weiter- und ausbilden. Niemand macht bei uns den Taucherschein, weil er im Urlaub schnorcheln möchte. Der Ehrenkodex ist groß.“
Alle in einem Boot
Als die Nacht anbricht, fahren die erschöpften Rettungskräfte für ein paar Stunden nach Hause. Frühmorgens suchen sie weiter. Wrackteile schwimmen an der Oberfläche. Ein Tauchroboter kommt aus Tirol. Der Flieger wird lokalisiert. Drei Tage lang fischt Angelina jedes noch so kleine Wrackteil aus dem Wasser und bringt es in eines der Zelte, wo Polizisten der Spurensicherung alles katalogisieren. Trotz der schwierigen Lage erlebt Angelina viele schöne Momente. Das starke Zusammengehörigkeitsgefühl mit den Leuten von der Feuerwehr und der Polizei gibt Kraft. „Gemeinsame Einsätze schweißen zusammen. Wir wissen, dass wir aufeinander angewiesen sind und uns gegenseitig brauchen.“ Humor hilft, Anspannung zu ertragen. Als Angelina das hundertste Wrackteil auf den Tisch legt, meint ein Polizist: „Könntest du nicht mal eine Leberkässemmel finden?“
Die Bergung
Nach drei Tagen wird das Wrack gehoben. Angelina will nicht in der ersten Reihe dabei sein und übernimmt lieber einen Fahrtendienst, an Bord ist das Dokumentationsteam der Kripo. Aber den toten Piloten sieht sie dann doch; trotz allen Trainings eine Ausnahmesituation. Durch die gegenseitige Unterstützung im Team kann Angelina das Erlebte gut verarbeiten. Wer möchte, wird psychologisch betreut und bekommt Hilfe vom Kriseninterventionsteam. „Kaum jemand hört nach so einem Einsatz auf“, sagt
Sebastian Hellbock. Jahre später wird Angelina noch einmal damit konfrontiert. Während einer Fortbildung in der PH Vorarlberg sollen die Teilnehmer:innen ein Erlebnis schildern, auf das sie stolz sind. Eine Frau erzählt, dass sie stolz darauf ist, den Tod ihres Bruders gut verkraftet zu haben. Pilot ist er gewesen und mit einem Flugzeug in den Bodensee gestürzt. Angelina spricht mit ihr und es tut ihnen beiden gut.
Lebensveränderungen
Nach dreizehn Jahren als Geschäftsführer und Landesleiter wechselt Sebastian Hellbock 2022 in den Krisen- und Katastrophenschutz der BH Bregenz, bleibt der Wasserrettung aber ehrenamtlich erhalten. Nach einer Babypause mit Zwillingen will Angelina nun die Alleinfahrgenehmigung machen, damit sie endlich das spektakuläre, neue Rettungsboot, die V9, fahren kann. Sie genießt die vielen schönen Momente im Sommer, wenn sie die nächtliche Langstreckenregatta „Rundum“ überwachen darf und alle heil im Hafen ankommen. „Am meisten freue ich mich, wenn ich die Hohentwiel sehe. Für mich das schönste Schiff. Es ist so majestätisch. Der Hammer.“ Die Hohentwiel und die Wasserrettung in Hard verbindet ein gemeinsames Schicksal.
Gemeinsames Leid
Jahrelang müssen sie sich einen Garagentrakt teilen. Das Material der historischen Schiffe lagert zwischen den Einsatzfahrzeugen der Wasserrettung, der Bordküche und der Seepolizei. Ein beengter Platz für alle. „Trotzdem hatten wir ein gutes Auskommen“, sagt Sebastian Hellbock und lacht. Er ist froh, dass die Wasserrettung 2019 für kurze Zeit ins Thaler Areal umsiedeln konnte, und hofft auf einen Seenotstützpunkt gemeinsam mit der Seepolizei. „Dann wäre das Infrastruktur- und Platzproblem endlich gelöst und die HSB könnte alle Räume kriegen.“ Im Katastrophenfall können wir uns in jedem Fall verlassen auf fähige, erfahrene, besonnene und gut ausgebildete Führungskräfte wie Sebastian Hellbock und auf beherzte Retterinnen wie Angelina Steurer-Maier und all ihre Kolleginnen und Kollegen. Danke!
Von mutigen Frauen und Männern
Die Wasserrettung in Zahlen
Die Vorarlberger Wasserrettung ist ein dezentral organisierter Verein.
- 1.300 Mitglieder, die Hälfte davon im Einsatzdienst aktiv tätig
- 50 Funktionäre erhalten das System an 8 Ortsstellen aufrecht
- 4 Angestellte leiten die Einsätze und übernehmen die Gesamtkoordination
- 40 Prozent Frauenanteil in allen Positionen bis hinauf zu den Führungskräften
- 3/4 der Mitglieder sind jünger als 40 Jahre
- 150 Mitglieder tragen Pager und gehören zur Alarmmannschaft
- 40 Mitglieder sind an Sommerwochenenden in ganz Vorarlberg im Einsatz
- 3–5 davon an Bord des Rettungsschiffes V9 am Bodensee
- 4 sind in einem Fahrzeug auf Landpatrouille unterwegs für Fließgewässereinsätze
- 30 dienen in Bädern
- 2 radeln mit Erste-Hilfe-Ausrüstung am Seeufer entlang, vor allem zu unbewachten Badeplätzen (Pilotversuch)
- 2–3 mal jährlich wird ein internationaler Seenotalarm ausgelöst
- 150 akute Einsätze gibt es jährlich in ganz Vorarlberg
- 2 Rettungsboote, davon liegt ein flachwassertaugliches in Hard (V 112) und ein sturmtaugliches in Bregenz (V9)
Am Bodensee sind 62.000 Boote zugelassen. 2021 feierte die Wasserrettung Vorarlberg ihr 70-Jahre-Jubiläum.
www.wasserrettung-vorarlberg.at