Der Große Bär
Fynn beugt sich über die Reling. „Tatsächlich! Wie eigenartig, dass sie nicht untergeht.” „Da sind sicher Goldstücke drin!”, ruft Bär und hüpft aufgeregt. Mit der langen Stange gelingt es ihnen, die Kiste an Bord zu schaffen. Fynn trägt sie in die Kammer, dann muss er raus, um die Gäste zu begrüßen. Bär kann sein Glück nicht fassen. Eine echte Schatztruhe. Sehr alt. Mit eisernen Bändern und einem Schloss. Bär will es öffnen. Er braucht ein Werkzeug. Und weil das Schiff gerade ausfährt und alle sehr beschäftigt sind, bemerkt niemand, wie er sich in den Maschinenraum schleicht und sich einen Schraubenzieher ausleiht. Er steckt ihn in das Truhenschloss, schön vorsichtig, hin und her, und dann … KLACK! Seine Pfoten zittern, als er den quietschenden Truhendeckel langsam öffnet.
POTZBLITZ UND GRANATEN! Was ist das? Schnell knallt er den Deckel wieder zu, plumpst atemlos auf den Hosenboden und presst sich die Pfoten auf die Brust. „Fynn … da drinnen … das glaubst du nicht …”, flüstert er, aber es ist zu spät, denn derjenige, der in der Truhe geschlafen hat, ist nämlich aufgewacht. Bär hat ihn geweckt.
„Ey! Is’ schon Land in Sicht?”, knurrt einer. „Ihr habt doch hoffentlich nicht ohne mich geankert?” Die Stimme klingt dumpf und gruselig. Bär setzt sich auf den Deckel und versucht sich ganz schwer zu machen. „Männer! Lasst mich raus!” Der Truhendeckel hebt sich. Bär rutscht herunter und starrt den Piraten an, der herausgekrochen kommt, mit Zottelhaar und einem blutroten Stirnband, einem Schlapphut und einem verwegenen Mantel. In seinem Gürtel stecken allerlei Waffen. Vor allem aber sieht er ein wenig bleich und durchsichtig aus.
„Ich glaub, ich hab verschlafen”, knurrt er, „Was für eine Teufelsmaschine macht so viel Krach? Und was für eine Beute bist du denn?” „Das ist eine Dampfmaschine und ich bin Bär und keine Beute. Ich glaube, du hast ein paar Jahrhunderte geschlafen und wahrscheinlich bist du dabei gestorben und hast es nicht gemerkt.”
„Hm, nun ja, wenn ich mich so ansehe … klingt irgendwie einleuchtend … ich brauch ein eigenes Schiff.”
„Hier gibt es nur das Rettungsboot, sonst nichts”, sagt Bär und beißt sich auf die Zunge. Der Pirat grinst ihn an. Seine Zähne sind verfault. Dann zieht er eine Pistole aus dem Gürtel und sagt: „Du wirst mich jetzt schön dort hinbringen. Ein falsches Wort und ich jag’ dir eine Kugel in den Bauch.” Zitternd führt Bär den Piraten zum Rettungsboot und wagt es kaum zu atmen. Er hält Ausschau nach Fynn. Aber der steht auf der Brücke. Alle anderen feiern und essen und trinken und keiner merkt, dass Bär in großer Gefahr ist. „Mitkommen!”, knurrt der Pirat, packt ihn und schon sitzt Bär mit ihm im schaukelnden Rettungsboot. Jetzt brüllt er doch aus voller Kehle: „FYNN!” Aber die Hohentwiel entfernt sich furchtbar schnell. Die Schaufel pflügen durch das Wasser. Nur die vielen hundert Lichter spiegeln sich im schwarzen See. Der Pirat beginnt herumzukramen. „Was ist denn das alles für Mist?”, knurrt er und wirft der Reihe nach alles, was sie hätte retten können, über Bord.
„Das waren die Seenotsignale … und das die Essensvorräte”, murmelt Bär und versucht die Tränen zu schlucken.
„Gibt’s hier keinen verfluchten Sextanten? Keine Seekarten? Wo ist der Kompass, zum Teufel nochmal?”
„Wohin willst du denn?”, fragt Bär.
„Tortuga”, brummt der Pirat, der offenbar keine Ahnung hat, wie man das Schiff steuert. Bär weiß es auch nicht. Und so sitzen sie auf dem Boot wie in einer Nussschale. Und das Wasser schwappt und gluckst gegen die Außenwände und es ist schwarz und finster. Plötzlich springt der Pirat auf, zeigt ans Ufer und ruft: „Land in Sicht! Meinst du, dass das Tortuga ist?”
„Es könnte auch die Insel Mainau sein”, murmelt Bär und friert. Er vermisst Fynn. Fynn weiß, wie man steuert. Fynn weiß immer, wo sie sind, auch wenn sie nicht mehr wissen, wo sie sind. „Die Sterne!”, ruft Bär. „Wenn man nicht mehr weiß, wo man ist, muss man den Großen Bären suchen. Der Große Bär hilft immer.”
„Ich sehe keinen Großen Bären”, brummt der Pirat niedergeschlagen und setzt sich wieder. „Außerdem will ich zurück in meine Truhe.”
Bär lacht, als er das Sternenbild entdeckt.
„Ich sehe nur ein Euter von einer Kuh. Es ist rosarot. Und es fliegt”, sagt der Pirat. Tatsächlich! Es ist ein Heißluftballon.
„HILFEEE!”, brüllt Bär und hüpft und springt, bis direkt über ihm der Korb auftaucht und ein Seil vom Himmel fällt.
„Du lässt mich hier in diesem Weltmeer doch nicht allein zurück?”, fragt der Pirat. „Natürlich nicht”, sagt Bär. Sie packen das Seil und lassen sich in den Korb ziehen. „Dich kenn ich doch”, sagt die Heißluftballonfahrerin. „Du bist Fynns Bär. Was machst du in dem Rettungsboot?”
„Lange Geschichte”, sagt Bär und zwinkert dem Piraten zu, der sich hinter der Frau versteckt. Eine Weile schweben sie zwischen Himmel und Erde. Über ihnen der Große Bär und der Mond. Unter ihnen taucht die Hohentwiel auf, mit all ihren Lichtern und der Musik. Keiner merkt, dass der Bär und der Geisterpirat an einem Seil aus dem Himmel klettern.
„Du, Bär!”, sagt der Pirat und zupft ihn am Fell. „Könntest du mich vielleicht wieder einsperren und zurück ins Wasser werfen? Ich bleibe lieber in meiner Truhe, bis ich in Tortuga bin.”
Bär erfüllt ihm seinen Wunsch. Mit aller Kraft schleppt er die Truhe zur Reling. Sie platscht ins Wasser. „Leb wohl”, sagt er und winkt.
„Was war denn drin?”, fragt Fynn, der plötzlich neben ihm auftaucht. „Nichts”, sagt Bär und lächelt.
„Um Himmels willen!”, ruft Fynn. „Was macht denn unser Rettungsboot da draußen?” „Ich weiß nicht”, sagt Bär und lacht. Und endlich ist wieder einmal richtig was los an Bord.